Zurück versetzt in alte Zeiten
Nähen ist wie Poesie. Obwohl ich eine moderne Computer Nähmaschine besitze und alles um mich herum modern eingerichtet ist, fühle ich mich trotzdem jedesmal zurück versetzt in vergangene Zeiten, wenn ich an meiner Nähmaschine sitze. In eine Zeit, als es noch keinen Strom gab und Kerzenlicht die Stuben erhellte. Als es weder Internet noch Fernsehen noch Radio gab und sich Informationen mittels Kaffeeklatsch verbreiteten. Eine Zeit, in der es noch viele Handwerker gab und kleine Läden, die die handgemachten Sachen verkauften. Eine Zeit, in der man in Modezeitschriften blätterte und sich sein Lieblingskleid entweder von einer Näherin anfertigen ließ oder selbst nähte.
Als alte Seele hat mich die Vergangenheit immer schon mehr interessiert als die Gegenwart oder Zukunft. Alles was alt und antik war, faszinierte mich und fasziniert mich immer noch. Wir alten hochsensiblen Seelen haben eh einen Hang alte Zeiten zu verklären und romantisieren. Natürlich würden wir da keine 2 Tage überleben, würden wir auf einmal wieder hinein geschmissen in dieses harte, arbeitsreiche Leben (wenn man nicht gerade zum Adel und obersten Stand angehört). Nein, so richtig leben möchte man dann doch nicht wieder in dieser Zeit. Und trotzdem überkommt einem manchmal eine unerklärliche Sehnsucht nach der guten alten Zeit.
Vielleicht ist es die Einfachheit der Vergangenheit, die einen so anzieht. Denn in der heutigen Zeit ist man oftmals mit Dingen überflutet, dass man winzige Kleinigkeiten im Alltag kaum noch wahr nimmt. Sei es die Laubfärbung, wenn die ersten Nächte kühler werden und die Sonne immer eher verschwindet. Oder eine Meise, die sich außen auf das Fensterbrett setzt und ins Wohnzimmer schaut. Man kann sich alles kaufen (sofern man das nötige Kleingeld hat). Das Angebot an materiellen Dingen ist riesig und die Möglichkeiten sein Leben zu gestalten ebenso.
Gehetzt geht man durchs Leben
Und wie hetzt man doch immer durchs Leben. Erst der Hauptjob, dann die Einkauferei für die Familie, dann der Haushalt, der Garten muss auf Vordermann gebracht werden, dann wird gebacken und gekocht (denn Industrienahrung ist ungesucht und schädlich für den Körper), man muss gucken, wo der Benzin am günstigsten ist und tanken fahren und weils Geld nicht reicht, hat man noch einen Zweitjob. Für mich als hochsensibles Wesen ist das manchmal ziemlich anstrengend. Ich fühl mich schneller ausgelaugt als andere, brauche mehr Schlaf, mehr Zeit für mich um meine Akkus wieder aufzutanken.
Abschalten beim Nähen
Aber beim Nähen kann ich alles runterfahren. Da kann ich abschalten und mich nur auf eine Sache konzentrieren, statt auf 1000 Dinge. Da kann ich für einen kurzen Moment alles um mich herum ausblenden und fühle mich wie damals im 19. Jahrhundert, als man in seiner Stube noch seine Kleidung selbst angefertigt hat. Wenn dann noch leckerer Kuchenduft aus dem Backofen strömt oder, wenn ein Duft von in Portwein und Rum eingelegten Rosinen durch den Raum zieht, ist die Szenerie perfekt.
Ich denke jeder Mensch braucht ab und an ein wenig Realitätsflucht. Noch nie war eine Zeit so schnelllebig und herausfordernd und sich ständig ändernd wie jetzt.
Wir Menschen sind einfach nicht dafür gemacht, dass wir so sehr durchs Leben hetzen und alles immer ganz schnell erledigen.
Selbst beim Nähen ertappe ich mich manchmal, wie ich die Geschwindigkeit höhere stelle, um schneller fertig zu werden. Ich denke immer, ich muss das jetzt schnell noch fertig kriegen und die Zeit ist schon wieder so weit voran geschritten, jetzt aber schnell. Aber meistens wird die Naht dann nicht so akkurat, wie wenn man sie langsam näht oder man vernäht sich oder es schleichen sich Fehler ein. Da belehrt mich die Nähmaschine dann wieder, dass es im Leben nicht immer gut ist, wenn man alles schnell schnell macht. Ein gutes Ergebnis braucht eben Zeit und Konzentration.
Natürlich wird mittlerweile überall darüber berichtet, dass man sein Leben entschleunigen soll. Aber irgendwie wird man trotzdem immer wieder mitgerissen. Da finde ich es gut, wenn man etwas hat, wo man gezwungen wird, langsamer zu machen und alles bewusster zu erleben.
Nähen als Meditiation
Ich denke, das Nähen kann uns auch helfen wieder zu uns selbst zu finden. Man kann herrlich dabei abschalten und gleichzeitig nachdenken. Es ist ein bisschen wie Meditation. Man ist im Moment und mittendrin und nicht nur am Rande irgendwo. Man sieht, wie etwas entsteht und die Freude über das selbst geschaffene ist unbeschreiblich.
Selbst gemachte Kleidung kann das Selbstbewusstsein stärken, da man sich viel wohler in ihr fühlt, weil sie besser sitzt und passt und aus Materialien besteht, die einem gefallen und hochwertig sind. Und man bekommt eine ganz neue Sicht auf Kleidung, die von Hand hergestellt ist. Man sieht, wieviel Mühe und Arbeit drin steck und lernt sie besser zu schätzen.
Nähen ist wie Poesie, denn wie bei einem Gedicht einzelne Wörter ein geschriebenes Kunstwerk ergeben, so ergeben einzelne Nähstiche ein physisches kreatives Kunstwerk.